Die Bocholter Bekleidungsindustrie 1921-1945
Die westmünsterländische Stadt Bocholt gehörte seit jeher zu den Textilzentren Westfalens. Ende der 1920er Jahre bezeichnete sie sich selbst gar als Hauptsitz der westfälischen Baumwollindustrie mit 70 Spinnereien, Webereien und Ausrüstungsbetrieben. Auf Grund der Bedeutung dieser Industrie als lokaler Arbeitgeber, Wirtschaftsfaktor und Stadtentwickler ist die wahre Flut an Literatur zur hiesigen Textilgeschichte für den Laien mittlerweile nahezu unüberschaubar.
Die Bocholter Bekleidungsindustrie hingegen findet bislang in der Lokalgeschichtsschreibung nicht einmal ansatzweise Erwähnung und ist somit weitgehend unbekannt. Dies ist hauptsächlich auf eine in Untersuchungen allzu oft nicht erfolgte, aber notwendige Differenzierung zwischen Textil- und Bekleidungsindustrie zurückzuführen - während die Textilindustrie nämlich Gewebe herstellt, werden diese von der Konfektionsindustrie zu Bekleidung weiterverarbeitet. Die Vernachlässigung ist auch ein Resultat dessen, dass es den Bocholter Kleiderfabriken nie gelang, aus dem Schatten der allzeit dominanten hiesigen Webereien und Spinnereien herauszutreten. Außerdem hatten sich die Kleiderfabrik in Bocholt im Vergleich zu Textilbetrieben erst relativ spät, nämlich nach dem Ersten Weltkrieg, angesiedelt.
Dennoch lohnt sich eine Untersuchung der Bocholter Bekleidungsindustrie seit ihrer Gründung bis zu ihrem durch die 85-prozentige Zerstörung der Stadt Bocholt hervorgerufenen zwar nur zeitlich begrenzten, aber doch erst einmal faktischen Aus im Jahre 1945. Aus diesem Grunde habe ich der Bocholter Bekleidungsindustrie im Jahre 2016 meine Masterarbeit im Studiengang Geschichte der Neuzeit gewidmet und die Entwicklung dieser Branche am Standort Bocholt sowie die einzelnen Unternehmensgeschichten zwischen 1921 und 1945 erstmals nachgezeichnet. Insgesamt konnten über zwei Dutzend im Untersuchungszeitraum produzierende Kleider-, Regenmäntel- und Knopffabriken nachgewiesen und untersucht werden.
Besonders eine Analyse der Firmenanfänge unter besonderer Berücksichtigung der Fabrikanten-Herkunft und der Räumlichkeiten, in denen konfektioniert wurde, hat die entscheidenden Faktoren herausgearbeitet, die die Ansiedlung von Kleiderfabriken am Textilstandort Bocholt begünstigten. Während nämlich die Webereien direkt vor Ort alle benötigten Stoffe liefert konnten, war mit den tausenden Arbeitern in Industrie und Landwirtschaft sogleich ein, wenn auch nicht der einzige Absatzmarkt vorhanden. Dass simplifiziert dargestellt keine teuren und viel Platz einnehmenden Webstühle, sondern lediglich einige deutlich kleinere und preisgünstigere Nähmaschinen angeschafft werden mussten, beeinflusste die Gründung einer mechanischen Kleiderfabrik ebenso wie die Tatsache, dass keine Dampfmaschine von Nöten war. Damit konnte beinahe jede kostengünstig zu mietende Räumlichkeit genutzt werden, wozu häufig doch eher unzureichende Restaurationssäle, Dachböden oder Hintergebäude zählten. Um dann erst einmal kein zu hohes Risiko einzugehen, wurde in Bocholt vor allem Arbeiter-, Sport- und Berufsbekleidung, in der Mehrzahl Hosen, hergestellt. Diese unterlag sämtlich nicht der Mode, sondern war einzig durch ihren Zweck bestimmt. Ihre Produktion sah sich auch keinen saisonalen Schwankungen ausgesetzt, womit sich die Artikel relativ ganzjährig konstant absetzen ließen. Dem gegenüber stand die vor allem in Berlin hergestellte Damenoberbekleidungsindustrie, deren Produktion und Absatz vom nur schwerlich einschätzbaren Geschmack der Käuferinnen und die nur bedingt kalkulierbare Witterung stark erschwert wurde. Die ersten Bocholter Kleiderfabrikanten hatten jedenfalls vor Ort einen Bedarf erkannt und diese Marktlücke für sich genutzt, wozu sie im Vergleich zu anderen Fabrikgründungen also relativ wenig Kapital aufbringen musste. So war es selbst einigen vormaligen Zuschneidern möglich, sich selbstständig zu machen und in die Riege der Bocholter Fabrikanten aufzusteigen. Schon fünf Jahre nach Eröffnung der ersten drei Kleiderfabriken hatte sich ihre Zahl 1926 bereits vervierfacht - allerdings führte wenige Jahre später die Weltwirtschaftskrise auch hier zum Konkurs mehrerer Unternehmen.
Dass die Bocholter Kleiderfabriken nicht nur während des, sondern gerade durch den Nationalsozialismus einen gewaltigen Aufschwung verzeichnen konnten, hat die Untersuchung u.a. anhand von empirischen Daten, nämlich einer Jahreseinkommensübersicht von zehn Bocholter Kleiderfabrikanten eindeutig nachgewiesen. So konfektionierten bereits Anfang/Mitte 1935 sieben von acht in Frage kommenden Unternehmen Uniformen für das "Millionenheer" der Mitglieder von NSDAP, ihren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden wie SA, HJ oder BDM. Die Nationalsozialisten hatten der deutschen Bekleidungsindustrie damit einen eben zusätzlichen Markt mit satten Gewinnchancen angeboten, den niemand ohne Weiteres der Konkurrenz überlassen wollte. Der Aufschwung der Bocholter Bekleidungsindustrie konnte auch nicht durch den Zweiten Weltkrieg gemindert werden - ganz im Gegenteil. Während beispielsweise in der Bocholter Textilindustrie Mitte 1942 17 Betriebe stillgelegt werden mussten, um ihre Ressourcen der Kriegswirtschaft nutzbar zu machen, florierten die Bekleidungsbetriebe z.T. selbst noch im Jahre des "totalen Krieges" 1944, da sie neben der Berufskleidungskonfektion für Arbeiterinnen an der "Heimatfront" mit der Ausführung von Wehrmachtsaufträgen befasst waren. So arbeiteten seit Mitte 1940 alle Bocholter Kleiderfabriken unter dem Dach einer Arbeitsgemeinschaft zur Instandsetzung für Heeresbekleidung für das Heeresbekleidungsamt Braunschweig. Neben der Neu-Produktion von Uniformen war die Bocholter Bekleidungsindustrie also in großem Stil damit beschäftigt, beschädigte Uniformen von der "Front" für eine Wiederverwertung zu flicken, wobei den Näherinnen an der "Heimatfront" durch die Betrachtung von Blutflecken und Einschusslöchern in den Uniformen die Grausamkeit des Krieges erahnbar wurde. Durch die Einspannung in die nationalsozialistischen Kriegswirtschaftspläne konnten die Bocholter Kleiderfabrik vor kriegsbedingten Zwangsstilllegungen bewahrt werden. Alles in allem profitierten die Fabrikanten in großem Maße von den Partei- und Staatsaufträgen des NS-Regimes und dementsprechend von der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 und vom Kriegsausbruch 1939, die ihnen zu einem enormen Aufschwung verhalfen. Wer es sich allerdings mit dem NS-Regime verscherzt hatte, dem drohten Benachteiligungen bei der Stoff- und Arbeitskraftzuteilung oder gar die Betriebsstillegung.
Zu den ersten drei Unternehmen der Branche in Bocholt zählte 1921 auch das Bocholter Werk der Regenmäntelfabriken Kattenburg - mit ihrer Nachfolgefirma, der Westdeutschen Regenmäntelfabrik AG und der Peco Regenmäntelfabrik mbH lassen sich insgesamt drei wetterfeste und witterungsbeständige Spezialbekleidung konfektionierende Unternehmen feststellen.
Auch sie produzierten Berufsbekleidung, z.B. für Motorradfahrer oder die Schifffahrt. Daneben wurden Windjacken, Regenmäntel für Mann, Frau und Kind sowie Pelerinen hergestellt. Von Vorteil war für die Fabrikanten, dass ihre Spezialkleidung damals lediglich pragmatisch entworfen sein musste und noch kaum der Mode unterlag. Dadurch waren die Artikel risikoärmer als dem Geschmack der Kundschaft unterworfene Oberbekleidung herzustellen, allerdings richtete sich ihr Absatz stark nach der kaum einschätzbaren Witterung, was die Branche anfällig machte. Dementsprechend schwierig gestaltete sich eine gute Kalkulation zwischen Lagerbestand und Neuproduktion, da die Lagerbestände bei schlechtem Wetter schnell verbraucht sein konnten, woneben die Produktion dann nur zögerlich hinterher kam.
Bereits bis Kriegsausbruch hatte sich Bocholt zu dem Bekleidungsindustriezentrum des Münsterlandes emporarbeiten können. Auch wenn die Branche nach dem Wiederaufbau zu bundesdeutscher Zeit weiter expandieren konnte, war der Niedergang der deutschen Bekleidungsindustrie letztlich nicht aufzuhalten. Da Automatisierungs- und Technisierungsmöglichkeiten alsbald auf ihre Grenzen stießen und eine Nähmaschine auch in Zukunft noch von einer Näherin bedient werden muss, hat die Konfektionsindustrie heute am Standort Deutschland wegen der im Vergleich zu Billiglohnländern für die Unternehmer zu hohen Lohnkosten aber weitgehend ausgedient.
Abb. 1: Blick in die Kleiderfabrik Heinrich Winkel, die im Westend 48/50 produzierte, anlässlich einer Besichtigung der Kommission des NS-Berufswettkampfes Anfang 1944. In der Bildmitte mit prüfendem Blick: Kleiderfabrikant Winkel. Dieser produzierte von 1924 bis zur Zerstörung des Betriebes durch zwei Luftminen im März 1945 Arbeits- und Berufs- und Sportbekleidung. Spätestens während des Krieges wurden "wehrwirtschaftliche" Wehrmachtsaufträge bearbeitet. Auf dem Gelände befindet sich heute die Straße "Westend" und eine Tankstelle.
Abb. 2: Aus dem Briefkopf der Kleiderfabrik Wiethold & Co. von 1937 wird ersichtlich, was produziert wurde. Berufs- und Sportbekleidung sowie der Mode wenig unterworfene "Knaben-Anzüge". Die Kleiderfabrik wurde 1934 gegründet, als eine Wiethold-Spinnerei und mehrere -Webereien in Konkurs gingen - anschließend reichte das Kapital "nur" noch für eine Kapital-arm einzurichtende Kleiderfabrik. Da sich die Wietholds anlässlich einer Wahlkampfveranstaltung 1932 mit den Nazis angelegt hatten, wurden sie im "Dritten Reich" häufig benachteiligt, sodass auch der Betrieb 1944 freiwillig aus Gründen mangelnder Rentabilität aufgegeben wurde. Auch nach dem Krieg kam die Kleiderfabrik nicht mehr richtig hoch.
Abb. 3: Die Zuschneiderei bei Winkel 1944: Ein Zuschneider-Lehrling legt mehrere Stoffbahnen unter eine Bandmesser-Zuschneidemaschine, um die vorher nach Schablonenmustern markierten Stoffe passend auszuschneiden.
Abb. 4: Werbeannonce der Peco Regenmäntelfabrik mbH, um 1925.